Der Drache vom Zireinersee
Eine Sage von Oswald Stock
Vor langer Zeit lebte in den Tiefen des Zireiner Sees ein Drache. Er hatte einen mächtigen Körper, große Flügel und einen langen, kräftigen Schwanz. Aber das Furchteinflößendste war sein Kopf mit den großen Augen und den riesigen Zähnen…
Die Menschen auf den umliegenden Almen und ihre Tiere hatten jedoch keinen Kummer mit dem Drachen, da es zwischen einem bestimmten Bauern und dem Drachen ein sehr altes, geheimes Übereinkommen gab. Jedes Jahr um Mitternacht zur Sommersonnenwende musste der Bauer die größte und fetteste Kuh zum südlichen Ufer des Sees bringen und zwar genau an diese Stelle, wo das Ufer über einen Felsabbruch in unergründliche Tiefen abfiel. An genau jenem Felsen kann man heute noch die Abdrücke des Drachen sehen. Immer zur selben Zeit genau an diesem Tag im Jahr begann das Wasser zu brodeln und der Drache tauchte aus den Tiefen des Sees auf. Beim Anblick des Ungeheuers lief dem Bauern jedes Mal ein kalter Schauer über den Rücken. Der Drache packte die zappelnde Kuh mit seinem riesigen Maul und stürzte sich zurück in die Tiefe des Sees. Dieses Ritual wiederholte sich über Jahrhunderte und niemand erlitt größeren Schaden. Als eines Tages die Frau des Bauern starb wurde der Alte Jahr für Jahr mürrischer und unzugänglicher. Er mied die Menschen immer mehr und war schnell als Sonderling und Eigenbrötler verschrien. Von Jahr zu Jahr, wenn er am besagten Tag mit der Kuh zum See wanderte, haderte er mehr und mehr mit seinem Schicksal und gönnte dem Drachen seine fetteste Kuh nicht mehr. Da beschloss er auf einmal, dem Drachen die Kuh in Zukunft zu verwehren. Gedacht getan, bei der nächsten Sonnenwende stand der Bauer am See ohne Kuh da und als der Drache pünktlich aus der Tiefe auftauchte, schrie der Bauer den Drachen wütend an, fuchtelte wild mit einer Sense herum und drohte ihm schließlich mit bloßen Fäusten. Die Augen des Drachens wurden schmal, er breitete seine Flügel aus, erhob sich in die Lüfte und umkreiste einmal die angrenzenden Berge. Dann stürzte er sich mit einem letzten bitterbösen Blick auf den Bauern zurück in die Tiefen des Sees. Der Bauer freute sich ungemein, weil er sich die Kuh erspart hatte und man hörte ihn auf dem Rückweg immer wieder laut auflachen. Er war so richtig zufrieden mit sich selbst wie schon lange nicht mehr.
Das große Glück kam wenig später bei der Bauernfamilie mit einem Kind ins Haus, das dem Jungbauern und seiner Frau geboren wurde. Schnell war der kleine Blondschopf der Liebling aller und als er mit 3 Jahren dann richtig herumlaufen konnte und mit seinen großen, blauen Augen das Herz aller erwärmte, zog eines Nachts vom Berg herab ein Sturm ins Tal. Alle erwachten von dem Getöse, verriegelten die Fenster, zündeten Kerzen in der Stube an und versammelten sich zum Gebet. Mit einem lauten Krachen flog plötzlich das halbe Dach weg, der Drache krallte sich völlig unerwartet den schreienden Buben und flog davon, nicht ohne dem alten Bauern einen strafenden Blick aus seinen furchterregenden Augen zuzuwerfen. Alle waren wie erstarrt und konnten nicht begreifen was da soeben passiert war. „Vater, was ist denn jetzt geschehen?“, schrie der Sohn. „Wir hatten doch immer Ruhe vor dem Drachen, da du ihn mit unserer besten Kuh gänzlich besänftigen konntest!“ Unter Tränen berichtete der Vater der versammelten Familie, dass ihn der Geiz und die Unzufriedenheit dazu getrieben hatte. Auf den Knien, die Hände gegen den Himmel gerichtet, flehte er weinend um Vergebung und bereute sein Tun aufs Tiefste.
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Die Arbeit auf dem Hof freute keinen mehr und bald sah man schon aus der Ferne wie alles heruntergekommen war. Erst als die Familie von einem Wanderer hörte, dass er das Lachen eines Kindes am Zireiner See zu hören glaubte, ließ dies die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrem Buben wieder wachsen. So wartete die Familie Tag für Tag am See und sie schliefen sogar in dem kleinen Stall direkt am Ufer zwischen den Kühen, die ihnen in den bitterkalten Nächten Wärme spendeten. Eines Nachts wachten sie auf und vernahmen ein glückliches Kinderlachen. Ihre Herzen rasten, denn die Stimme ihres Kindes war ihnen sehr wohl vertraut. Sie folgten dem glockenhellen Lachen und gingen einige Meter am Seeufer entlang zu der Felsklippe, die direkt in das dunkle Wasser abfiel. Immer deutlicher hörten sie das Lachen und als das Mondlicht auf den See fiel, sahen sie am Grunde des Sees den Jungen mit dem Drachen spielen. Er rutschte auf seinem langen Schwanz hinunter und seine Fröhlichkeit trieb allen die Tränen in die Augen. Der Jungbauer umarmte und drückte seine liebe Frau und beide freuten sich in ihrer verzweifelten Situation, dass ihr Kind doch noch wohlauf war. Von diesem Tag an besuchte die Familie regelmäßig um Mitternacht zur Sommersonnenwende den Zireiner See.
Manch Wanderer erzählt seitdem, von einem herzlichen Kinderlachen, das nur ein Mensch reinen Herzens hören konnte, wenn er an einsamen Tagen am nebelverhangenen See verweilte. Dem alten Bauern wurde verziehen, denn viele Kinder spielten später noch am Bauernhof und wenn einmal eine fette Kuh fehlte, dann schmunzelte der junge Bauer fast zufrieden und gedachte seinem Sohn und dem Drachen vom Ziereiner See…
Die Sage „Der Drachen vom Zireiner See“ schrieb Oswald-Paul Stock im Jahre 2016.
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